Neue Zeit: 1995
Da ist es - das neue Jahr, also neue Zeit. Manche werden 1995 an ihrer Zeit herummäkeln, weil sie zu wenig davon haben. Wie- der andere kritisieren an der Zeit, daß sie viel zu lange darin weilen müssen und sich deshalb lang- weilen. Es gibt eine dritte Sorte Mensch, die es schicksalshaft ergeben nimmt und zum Himmel schaut und klagt: So ist die Zeit. Und wieder eine vierte Sorte Mensch eine besonders schlaue Sorte - weist mahnend darauf hin, daß alle Menschen dieselbe Zeitmenge zur Verfügung haben. Es gibt eine fünfte Sorte. Eine verschwindend kleine Sorte. Das sind die Menschen, die in ihrer Zeit - über Zeit nachsinnen. Wie sie entstand, wie sie sich ändert, wie sie gemessen werden kann. Nein, nicht Uhrmacher. Auch Philosophen. Ich meine Astronomen. Einmal im Jahr begeistere ich mich an und lerne von ihnen. Onkel Hans-Heinrich ist so einer von ihnen und mit seinem Wissen dazu überschätzt. Nirgendwo war Platz, Zeit für das, was für Liebende doch die schönsten Ferien sind. Ein kleines Dickschiff mit einer Kajüte, darin drei kerngesund quengelnde Kinderchen, dazu volle Duschen und Waschräume in den Häfen und alle Fahrräder für die Idylle Umgebung waren vermietet. Hermann und die Seinen, nennen wir sie aus Datenschutz und literarischen Gründen Dorothea, fanden nun ein Plätzchen in einem Hafen auf Aero. Zwischen Segelclubhaus und meter- hoher dichter Hecke legte Her- mann sein neues, dickes Frottee-Handtuch (Dorothea hatte es ihm geschenkt und „Hermann" stand auch darauf) fürsorglich auf die Erde, damit Dorothea sich nicht pieke. Denn die Gegend nicht nur um Aero, sondern überhaupt die skandinavische Landschaftsstruktur lebt von Disteln. Ja und...?" fragte Alexander, „und dein Auge...?" Ja eben, antwortete Hermann ihm, ,,das Handtuch habe ich ja anschließend in der Dusche benutzt und dabei in der Eile - die Dusche ist immer rappelvoll - eine restliche Distel in mein Gesicht und auf die Hornhaut gerieben...". Das-fand Alexander, der sich mit Wirkungsforschung beschäftigt - sei in der Tat eine buchstäbliche Form der Liebe, die mit Blindheit schlägt. Unser heutiger Kalender ist ein Sonnenkalender und den Mond merken wir nur noch an zwei Stellen: Einmal der Einteilung des Jahres in zwölf Monate (auch wenn die realen Mondphasen gar nichts mehr mit unseren Monaten zu tun haben). Zum anderen in der Festlegung von Ostern, das immer nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang zu feiern ist. Solange wir es noch feiern und es nicht zugunsten unserer Renten- oder anderer Versicherungen weggesetzt wird. Noch Friedrich der Große hatte zwei Osterfeste: Katholiken und Protestanten feierten an verschiedenen Daten und diesen Wirrwarr in seinem Kalender merzte der kleine Friedrich der Große aus durch ein Reichsgutachten, nach dem das Osterfest ein gemeinsames von Katholiken und Protestanten wurde. Jedenfalls kalendarisch. Wer nicht alles schon eigene Kalender, d. h. eigene Zeitmaße und Zeiten hatte: Die alten Römer waren vergleichsweise jung. Ägypter hatten Kalender, die Babylonier einen anderen. Aber babylonische Verhältnisse im Kalender gab es durch die Vielzahl später: Römischer Kalender, Dionysischer Kalender und die französische Kalenderreform, die mit der französischen Revolution einherging doch Schluss mit der Bildung: Ich habe - wie immer - einen Kalender aus der Bahnhofstraße (gekauft) und einen Reservekalender (geschenkt) - die reichen mir, um meine Zeit zu teilen. Und zu haben.
3. Januar 1995